Kamishibai mit Märchen in Leichter Sprache

Sprachbarrieren überwinden mit dem Kamishibai

Publiziert am 21.04.2016 von Katharina Gernet

Das japanische Papiertheater (Kamishibai) ermöglicht in vielfältiger Weise die Förderung von Menschen mit geringer Sprachkompetenz. Als Textgrundlage eignen sich sehr gut Märchen, aber ihre Sprache ist stellenweise schwierig. Die Lösung: Märchen-Fassungen in „Leichter Sprache“.

Kamishibai und Märchen – eine perfekte Verbindung

Als Textgrundlage für das Kamishibai eignen sich ausgesprochen gut Märchen. Sie haben eine starke emotionale Kraft. Sie sind ansprechend, weil sie Konflikte thematisieren, die viele Menschen aus eigener Erfahrung kennen. Sie sind anregend, weil in ihnen übersinnliche Elemente vorkommen, die Raum für Fantasie geben und konventionelle Grenzen aufheben. Sie sind beruhigend, weil die Konflikte meist in einem glücklichen Ende münden und das Gute siegt. Durch ihre emotionale Kraft eröffnen Märchen Situationen, in denen Zuhörer und Zuschauer besonders lernbereit sind.

Die schwierige Sprache von Märchen

Allerdings ist die sprachliche Form der deutschen Märchen keineswegs für alle Menschen gut verständlich. Das fiel mir auf, als ich die Kamishibai-Bildkarten für „Frau Holle“ vom Don Bosco Verlag bekam. Diese Bildkarten hatte ich bestellt, um sie für meine Arbeit mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen und auch mit nicht-deutschen Muttersprachlern zu nutzen. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass der Text zu den Bildern einige Stellen enthält, die das Textverständnis erschweren.

Da geht es zum einen um Fragen des Vokabulars. Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Menschen, für die Deutsch eine Zweit- oder Fremdsprache ist, oder allgemein Menschen mit geringer Sprachkompetenz sind Begriffe wie „spinnen“, „einwilligen“, „Spule“, „Pech“, „Witwe“ oder „Heimweh“ nicht vertraut. Auch bildliche Wendungen – z.B. „die Besinnung verlieren“ – oder Zweideutigkeiten können für Verwirrung sorgen. So sagt Frau Holle zur faulen Marie, nachdem sich das Pech über diese ergossen hat: „Das ist für deine Dienste.“ Es bedarf gewisser Lebenserfahrung oder bestimmten Weltwissens, um die Ironie des Begriffes „Dienste“ in diesem Kontext zu erfassen und zu verstehen, dass damit keineswegs „getane Arbeit“ sondern im Gegenteil „Mangel an getaner Arbeit“ gemeint ist.

Zum anderen geht es um die Ebene der Grammatik. Lange, verschachtelte Satzkonstruktionen stellen für das Textverständnis von Menschen mit geringer Sprachkompetenz eine große Herausforderung dar. Der am Original der Grimm-Fassung nahe Text von „Frau Holle“ sagt z.B.: „Die Mutter wollte ihrer anderen Tochter nun auch zu einem solchen Glück verhelfen und gebot ihr, ebenfalls zu spinnen, bis die Spule blutig wäre, und diese in den Brunnen zu werfen.“- Ein harter Brocken für Menschen, denen diese Form der Sprache nicht vertraut ist.

Vereinfachung der Märchentexte: „Leichte Sprache“

Das Erzähltheater wird zur Förderung von sozialen oder emotionalen Kompetenzen oder auch zur Anregung von Kreativität eingesetzt. Deshalb ist es ratsam, auf der sprachlichen Ebene Barrieren zu vermeiden, die zu Verunsicherung und Irritation beim Publikum führen und damit vom eigentlichen Ziel der Aktion ablenken. Für den Fall, dass im Erzähltheater Märchen als Textgrundlage dienen sollen, empfehlen sich Fassungen in leichter Sprache.

„Leichte Sprache“ ist eine vereinfachte Ausdrucksweise, die leichte Verständlichkeit zum Ziel hat und dadurch auch Menschen mit geringer Sprachkompetenz erreichen will. Der Begriff „Leichte Sprache“ ist rechtlich nicht geschützt. Es gibt keine offizielle Normierung der Regeln, denen Leichte Sprache folgt. Im Zuge von Bemühungen um Inklusion und Barrierefreiheit hat das „Netzwerk Leichte Sprache“ in enger Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen einen Katalog von Regeln für Texte in leichter Sprache aufgestellt: „Leichte Sprache – ein Ratgeber“. Der Regel-Katalog bezieht sich auf zwei Bereiche. Er enthält Empfehlungen zu formalen Elementen wie dem typografischen Erscheinungsbild ganzer Texte, der Schreibung einzelner Wörter und Fragen der Interpunktion. Dieser Bereich ist für die gesprochene Sprache im Erzähltheater weniger relevant. Sehr viel wichtiger hierfür sind die Empfehlungen zu sprachstrukturellen Aspekten, v.a. zu Vokabular und Grammatik.

Märchen wurden bisher nicht in Leichte Sprache übersetzt. Deshalb habe ich für meinen Bedarf die Übersetzung von „Frau Holle“ selbst vorgenommen. (Eine Reihe weiterer Märchen in leichter Sprache ist in Arbeit.) Geprüft wurde das Ergebnis von einer erwachsenen Frau mit kognitiven Einschränkungen. Die Prüfung von Übersetzungen in Leichte Sprache durch Menschen aus der Zielgruppe ist ein unerlässlicher Schritt bei der Übersetzungsarbeit. Das primäre Ziel heißt schließlich: Verständlichkeit.

Märchen sind auch in Leichter Sprache bezaubernd

Dem Ziel der Verständlichkeit müssen sich Vorstellungen von Ästhetik, Sprachkunst und Gewohnheit unterordnen. Daraus ergibt sich z.B. bei Märchen der Verzicht auf das Präteritum als typische Erzählzeit. Erzählt wird im Präsens. Das bedeutet, dass die traditionelle einleitende Formel „Es war einmal ...“ sowie die klassische Schlussformel „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ wegfallen.

Zudem wird die Satzstellung vom Typ Subjekt-Prädikat-Objekt bevorzugt. Es gibt den einen oder anderen Kniff, um dieses Muster zu unterbrechen, aber die S-P-O-Anordnung dominiert.

Von Wortwiederholungen wird nicht abgeraten, sondern sie sind im Gegenteil erwünscht. Das bedeutet z.B.: Ein und derselbe Gegenstand, ein und dieselbe Person oder ein und dieselbe Tätigkeit werden an verschiedenen Stellen im Text der Wiedererkennbarkeit halber stets mit den gleichen Begriffen erwähnt.

Diese und andere stilistische Aspekte mögen für manche Leser/Zuhörer zu einer gewissen Monotonie und Eindimensionalität der Texte führen. Zugleich aber tragen sie zur Verständlichkeit der Texte bei und diese – so sei hier wiederholt – ist das übergeordnete Ziel von Übersetzungen in Leichte Sprache. Wer Märchen-Fassungen in Leichter Sprache beim Kamishibai ausprobiert, wird sehen, dass die Märchen die Vereinfachung „aushalten“: Sie bewahren ihren Zauber.

Dr. Katharina Gernet, Studium der Slavischen Philologie, Englische Philologie und Ethnologie in München, Leiden (Niederlande) und Volgograd (Russland). Promotion mit einer Arbeit über Gender und Migration auf der Halbinsel Kamtschatka im russischen Fernen Osten. Sie lebt mit ihrer Familie in Braunschweig. Sie unterrichtet erwachsene Analphabeten im Lesen und Schreiben. Zugleich bildet sie sich zur Übersetzerin für Leichte Sprache fort.

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