Vor ein paar Tagen saß ich mit Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen. Wir erzählten einander von Musik, die uns im Leben wichtig und vertraut geworden ist. Und wir fingen an, Lieder in verschiedenen Sprachen miteinander zu singen. Eine Familie aus Afghanistan hatte ein Lied aus ihrer Heimat mitgebracht. Im wiegenden 3er-Takt übten wir die etwas traurig klingende Melodie zu den Lauten der für mich fremden Sprache. Dann folgte ein Lied aus Osteuropa, das ebenfalls einem Wiegenlied ähnelte. Ich spürte, wie die Musik viele unter uns tief berührte. Und ich musste spontan an „Stille Nacht“ denken – obwohl das herbstliche Wetter noch nicht an Weihnachten erinnerte. Aber die wiegende Bewegung und der getragene weiche Ton beschreiben nach meinem Empfinden eine ähnliche Sehnsucht und Stimmung wie so manches gefühlvolle Volkslied aus anderen Ländern.
Lieder mit Geschichte, Geschichten mit Liedern
All diese Lieder, die Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt in ihrer Erinnerung bewahren, die sie in Kriegszeiten mit auf die Flucht nehmen und später vielleicht mit anderen Menschen teilen, haben eine Geschichte – oder viele Geschichten. Auch mit „Stille Nacht“ sind viele Geschichten von Krieg und Frieden, von Angst und Hoffnung, von Aufbruch und Neubeginn verbunden. Und das seit 200 Jahren! Denn „geboren“ wurde das Lied wohl in jener Weihnachtszeit 1818, als die Menschen am Ufer der Salzach – wie auch anderswo – allen Grund hatten, sich nach Sicherheit und Frieden in unruhigen Zeiten zu sehnen. Das verbindet uns Menschen weltweit bis heute: diese Sehnsucht, in vertrauten Liedern und in der Gemeinschaft des Singens für eine Weile Geborgenheit und Verbundenheit zu spüren – und auf Frieden zu hoffen.
Stille Nacht, heilige Nacht
Aber es gibt auch andere Geschichten: Viele von uns kennen das Unbehagen, wenn in der Vorweihnachtszeit „Stille Nacht“ im süßlichen Pop-Sound durchs Kaufhaus säuselt: Stimmung aus der Konserve, glitzernd verpackt und bis zum Überdruss wiederholt. Und nicht jeder denkt mit guten Gefühlen an „Stille Nacht“ im Familienkreis, wenn inmitten von Konflikten und Spannungen die fehlende Harmonie mühsam herbei gesungen werden soll. Wie und mit welchem Anliegen können wir heute also dieses durchaus ambivalent wirkende Lied singen, das in Österreich sogar auf der nationalen Liste des immateriellen UNESCO-Kulturerbes steht?
Vielleicht indem wir es wieder in Verbindung mit Lebens- und Glaubensgeschichten bringen – mit den überlieferten wie mit den eigenen. Eine dieser Geschichten – genauer gesagt: die „Geburtsgeschichte“ des Liedes – wird mit den Kamishibai-Bildkartensatz und dem Mini-Buch „Stille Nacht“ für Kleine und Große nach historischen Überlieferungen erzählt.
Dabei ist es gar nicht so leicht, zum Inhalt und zur textlichen Botschaft des Liedes heute noch einen Zugang zu finden. Für viele wirkt die Sprache der sechs Strophen (von denen meistens nur die ersten drei gesungen werden) fremd und unverständlich – auch wenn es im Kern um eine tiefe Glaubenserfahrung im Vertrauen auf Gottes Liebe und Frieden geht.
Deshalb möchte ich hier zu einem kleinen Experiment einladen:
Was passiert, wenn wir für die vertraute Melodie und die darin besungene Botschaft eine andere Sprache suchen, die neu und anders von dieser Glaubenserfahrung erzählt? Gewiss tragen auch die alten Worte des Originals für viele Menschen zur Vertrautheit des Liedes bei. Das soll mit der Suche nach neuen Worten nicht entwertet werden und kann neben den neu gefassten Strophen und zahlreichen fremdsprachigen Nachdichtungen gern so stehen bleiben.
Stille Nacht – neue Vertrautheit schaffen
Für all jene aber, die mit jüngeren Kindern oder mit Menschen, die mit Deutsch noch nicht so vertraut sind, einen neuen Zugang zur alten Friedens- und Hoffnungsbotschaft des Liedes suchen, können folgende Strophen in erleichterter Textfassung eine Hilfe sein – oder eine Anregung. Denn während sich hier die beiden ersten und letzten Zeilen in jeder Strophe unverändert wiederholen, lassen sich für die beiden mittleren Zeilen gewiss auch noch weitere Varianten finden:
Stille Nacht, heilige Nacht!
Weißt du, was Freude macht?
Licht und Wärme für ein Kind,
ein Zuhause bei Kälte und Wind.
Frieden für die Welt,
Frieden für die Welt
Stille Nacht, heilige Nacht!
Weißt du, was Freude macht?
Dieses Kind, so lebendig und klein,
kann uns überall nahe sein.
Frieden für die Welt,
Frieden für die Welt
Stille Nacht, heilige Nacht!
Weißt du, was Freude macht?
Gott schaut Menschen mit Liebe an,
dass die Angst in uns heilen kann.
Frieden für die Welt,
Frieden für die Welt
Stille Nacht, heilige Nacht!
Weißt du, was Freude macht?
Wie im Dunkel ein Engel spricht:
Kommt zusammen und fürchtet euch nicht.
Frieden für die Welt,
Frieden für die Welt
Stille Nacht, heilige Nacht!
Weißt du, was Freude macht?
Gottes Liebe, so groß und so weit,
wohnt auch in der Dunkelheit.
Frieden für die Welt,
Frieden für die Welt
Textneufassung zur alten Melodie: Susanne Brandt
Download mit Lied und Ausmaldbild der Weihnachtskrippe:
Nachdichtungen in vielen Sprachen der Welt: http://www.silentnight.web.za/translate/
Praxis-Tipp: Wie setze ich den Liedtext beim Erzählen mit den Bildkarten ein?
Innerhalb der Geschichte singe ich den Originaltext – mit Kindern ggf. nur eine Strophe, mit Senioren (da funktioniert die Geschichte auch sehr gut) gern auch alle 6 Strophen.
Den neuen Text führe ich eher im Anschluss an die Geschichte ein – wenn im Gespräch vertieft wird, warum ein Lied Hoffnung schenken kann. Da kann der neue Text dann zum besseren Verstehen und Einfühlen beitragen.